33. Internationales LAUD-Symposium: „Cognitive Approaches to Second/Foreign Language Processing: Theory and Pedagogy“
Schmitz, Ulrich (2008)
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Als René Dirven Anfang der 1970er Jahre zum ersten LAUD-Symposium in Trier einlud, hätte sich niemand träumen lassen, dass LAUD einmal zu einer der weltweit angesehensten Konferenzen in der linguistischen Welt heranwachsen würde. Die unvergleichliche Verbindung von hohem wissenschaftlichen Niveau und jedes Mal erneut sich einstellender familiärer Atmosphäre sucht nach dem Urteil vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihresgleichen.
Das 33. Symposium (10.-13.3.2008) war nun schon das fünfte unter der bewährten Leitung von Martin Pütz und seinem Team. Wieder
debattierten 90 neugierige Experten aus allen fünf Erdteilen im
Landauer Parkhotel drei ebenso konzentrierte wie entspannte Tage und
Nächte lang in einer Umgebung, in der Leib und Seele verwöhnt wurden und
es sonst keinerlei Ablenkung gibt. Diesmal ging es um theoretische und
didaktische Probleme des Zweit- und Fremdspracherwerbs aus kognitiver
Sicht, eingebettet in allgemeine Aspekte von Zweisprachigkeit und
Sprachvergleich. In den 65 Vorträgen, die sich teilweise auch
wechselseitig aufeinander bezogen (Vorformen lagen allen Teilnehmern auf
994 gedruckten Seiten vor) wurde ein breites Spektrum theoretischer,
empirischer und didaktischer Themen bearbeitet.
Ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung
sieht sich heute veranlasst, neben seiner Muttersprache (oder auch
mehreren in der Kindheit auf natürliche Weise erworbenen Sprachen)
mindestens eine Fremdsprache zu erlernen; meist ist das Englisch. Die
Konferenzteilnehmer untersuchten, welche Arten von Anstrengung die
Lerner dabei auf sich nehmen, auf welche Schwierigkeiten im Einzelnen
sie und ihre Lehrer dabei stoßen und wie man die Lernprozesse im Kleinen
und Großen verbessern kann. Neben auch wissenschaftsgeschichtlichen
Rückblicken und Vergleichen beriefen sich sämtliche Redner vorzugsweise
auf Annahmen und Ergebnisse der kognitiven Linguistik, um sie für diesen
Zweck theoretisch, linguistisch, didaktisch und unterrichtspraktisch
möglichst fruchtbar zu machen.
Andrea Tyler (Georgetown University, Washington, USA) sprach über „Applied cognitive linguistics. Putting linguistics back into second language learning and teaching“.
Sie
wies darauf hin, dass viele Lehrer und oft auch Wissenschaftler
gedankenlos unterstellten, Fremdsprachenlehrbücher seien frei von
theoretischen Annahmen und beschrieben Wortschatz und Grammatik einfach
so, wie sie seien. Tatsächlich beruhten die heute am weitesten
verbreiteten Lehrbücher auf wissenschaftlich längst überholten
strukturalistischen Lehrmeinungen, wie sie in den 1950er Jahren
herrschten. Diese Lehrbücher enthielten zahllose Ungenauigkeiten und
Mängel, und sie berücksichtigten erhebliche Teile von Sprache und
Sprachgebrauch überhaupt nicht. Am Beispiel von Prä-positionen und
Modalverben führte sie vor, in welcher Weise die kognitive Linguistik
das bei weitem vollständigste und am besten zutreffende Modell gerade
auch für den Fremdspracherwerb und -unterricht biete.
In natürlichen Alltagssituationen treffen Sprachlerner dauernd auf
bildliche, metaphorische und metonymische Denk- und Ausdrucksweisen, die
ihnen erhebliche kulturspezifische und sprachliche Verständnisprobleme
bereiten und etwa im beruflichen Alltag oft zu Missverständnissen
führen. Jeannette Littlemore (University of Birmingham, England)
führte das an Beispielen von Englisch-Studierenden aus Bangla Desh vor
sowie an beruflichen Situationen in einer Kindertagesstätte (z.B. upstairs für Verwaltung, downstairs
für Kinderzimmer) und unterbreitete kognitiv-linguistische Erklärungen
und didaktische Vorschläge dafür („Figurative thinking and foreign
language learning: Metaphor and metonymy in institutional discourse”).
Melissa Bowerman (Max Planck Institute, Nijmegen, Niederlande) untersuchte kindlichen
Spracherwerb unter Gesichtspunkten semantischer Typologie: Wie erlernen
Kinder sprachspezifische semantische Kategorisierungen? Bekanntlich
werden zahlreiche Ereignisse, Tätigkeiten und Beziehungen in
verschiedenen Sprachen semantisch höchst unterschiedlich kategorisiert.
So verwendet man im Englischen für alle Arten von Anlegen von Kleidung
das gleiche put on. Im Deutschen sagt man meist anziehen,
aber zum Beispiel nicht für Hüte. Im Koreanischen gilt ein anderes Verb
für Kleidungsstücke an Kopf, Beinen und Füßen als für solche am Rest
des Körpers; im Japanischen erscheint der Körper hingegen dreigeteilt.
Wo man deutsch und englisch schneiden bzw. cut sagt, muss man im Niederländischen zwischen schneiden mit einer Klinge (snijden) und schneiden mit zwei Klingen (knippen)
unterscheiden, ähnlich im Mandarin - und so weiter und so fort. Kinder
lernen all diese sprachspezifischen Unterschei-dungen bereits bis zum
zweiten Lebensjahr. Es gibt keine Indizien dafür, dass grobe sprachliche
Kategorisierungen schwerer zu erlernen sind als sehr feine; manchmal
könnte sogar das Gegenteil der Fall sein. Diskutiert wurden die Folgen
dieser experimentellen Beobachtungen für den Fremd- und
Zweitspracherwerb.
Nick Ellis (University of Michigan, USA)
beschrieb den Zweitspracherwerb als eine Funktion konstruierenden
Lernens, die von vier Größen bestimmt wird, nämlich Häufigkeit,
Häufigkeitsverteilung, sprachliche Form und kommunikative Funktion. An
zahlreichen Beispielen hob er besonders die Rolle hervor, welche die
Häufigkeit des Gebrauchs sprachlicher Erscheinungen fürs Sprachlernen
spielt: „our brains are tuned by frequency“.
Susan Gass (Michigan State University, USA) erläuterte
den Status der Interaktionshypothese zum Zweitspracherwerb zwischen
(noch) Modell und (schon) Theorie. Sie lieferte instruktive Beiträge
sowie anschauliche Beispiele für den Weg von der Beschreibung zur
Erklärung von Verläufen und Merkmalen des Zweitspracherwerbs durch
Interaktion, insbesondere durch stillschweigendes oder explizites
Aushandeln passender sprachlicher Formen zwischen den
Kommuni-kationspartnern. („There are flurs.“ - „Floors?“ - „Fluors - ah,
flowers. Oh sorry, my pronunciation is so horrible.“ - „Oh yes,
flowers. Go on.”)
In ihrem Vortrag über „Cognitive theory as a tool for teaching pronunciation“ nutzte Helen Fraser (University of New England, Armidale, Australien) die Ressourcen
der kognitiven Linguistik für einen ungewöhnlichen Zugang zur oft
ungeliebten Unterweisung in korrekter fremdsprachlicher Aussprache. Sie
verglich Aussprache mit Zeichnen. In beiden Fällen gehe es um Imitation.
Im Gegensatz zu weit verbreiteten und didak-tisch eher hilflosen
Vorstellungen sei Imitation alles andere als ein einfacher Vorgang,
sondern stelle höchst komplexe kognitive Ansprüche an Lehrer und Lerner.
Im Falle der Aussprache müsse dafür überhaupt erst eine angemessene
Metasprache entwickelt werden. Im Übrigen sei nicht, wie alphabetisierte
Personen und viele Lehrbücher in Analogie zu Bedingungen der
Schriftlichkeit meist unterstellten, das Phonem die kleinste Einheit des
Sprechens. Für den Hörer gehe es vielmehr darum, aus dem
kontinuierlichen Sprachfluss diskrete Einheiten der Wahrnehmung
überhaupt erst zu erkennen, um den organisierten Zusammenhang von Teilen
und Ganzen zu verstehen.
JoAnne Neff-van Aertselaer & Caroline Bunce (Universidad Complutense de Madrid, Spanien) stellten empirisch erhobene charakteristische Probleme, Muster und Fehler spanischer Studenten beim Erwerb englischer have-Konstruktionen (have an influence on, have value) in eine kognitiv-vergleichende Perspektive or und leiteten daraus erfolgreiche Unterrichtsstrategien ab.
Peter Robinson (Aoyama Gakuin Universität Shibuya, Tokio, Japan)
widmete sich der didaktisch geplanten Komplexitätsfolge von Aufgaben im
Zweitspracherwerb. In seinem Vortrag über „Task complexity, intentional
reasoning demands, L2 speech production, interaction and learning“
entwickelte er ein Modell zur sequentiellen Gestaltung von
Aufgaben und füllte es mit konkreten Beispielen bis hin zum kognitiv
begründeten Aufbau von Kursplänen. Im Kern geht es darum, die
Aufgabenfolge nicht nach vermeintlich zunehmender Komplexität in der
Logik des Gegenstandes, sondern ausschließlich nach wachsender
kognitiver Komplexität für den Lerner anzulegen. Dabei gilt es auch,
subjektive Faktoren wie Angst zu berücksichtigen. Vor allem
anspruchsvollere Aufgaben führen dann, wie Robinson anhand empirischer
Unter-suchungen nachwies, zu signifikant mehr Interaktion und
konstruktiven Wiederaufnahmen relevanten sprachlichen Inputs mit messbar
erhöhtem Lernerfolg.
John Taylor (University of Otago, Neuseeland) beschloss die Tagung mit einem grundlegenden Vortrag zum Thema „Language in the mind“. Die
große Wende des linguistischen Interesses von der äußeren (external)
zur inneren (internal) Sprache im 20. Jahrhundert habe ungelöste
Probleme hinterlassen, welche die kognitive Linguistik am besten lösen
könne. Keineswegs sei es so, dass die Sprachperformanz (E-language) eine
als ideal gedachte Sprachkompetenz (I-language) nur unvollkommen
realisiere. Vielmehr spiegele eine innere Sprache im Kopf umgekehrt die
äußere Sprachwirklichkeit wider. („I-language is basically a reflection
of E-language.”) Zahlreiche sprachliche Erscheinungen könnten nicht, wie
sonst oft angenommen, durch Anwendung grammatischer Regeln auf einen
Bestand sprachlicher Einheiten bestimmt werden. Idiomatische Wendungen
im weiteren Sinne könnten geradezu definiert werden als dasjenige in der
Sprache, das nicht aus Grammatik und Lexikon errechnet werden könne.
Tatsächlich seien das, was wir Lexikon und Grammatik nennen, nur
unterschiedliche Ausgangspunkte letzten Endes eines und desselben
Phänomens, nämlich von Sprache im Kopf. Bei genügend großem Maßstab der
Betrachtung verfüge jedes Wort über seine eigene Grammatik.
Dementsprechend sei Häufigkeit im Sprachgebrauch (und in der Welt) ein
entscheidender Faktor beim Sprachlernen - ein Punkt, auf den auch Nick
Ellis hingewiesen hatte.
Im Rahmen der mittlerweile schon legendär gewordenen Weinprobe im Alten Kaufhaus wurde René Dirven eine Festschrift („Living through languages“) überreicht.
Der abschließende Kommentar einer Teilnehmerin aus den USA fasste
eine allgemeine Stimmung zusammen: „Ich habe schon oft von den
LAUD-Symposien gehört, war aber noch nie dabei. Ich muss sagen: Meine
Erwartungen sind übertroffen worden. Ich habe noch nie eine so
angenehme, warmherzige und wissenschaftlich kreative Atmosphäre bei
einer Tagung erlebt. Ich werde wiederkommen!“
Die überarbeiteten Vorträge und Ergebnisse des Symposiums werden 2009 in zwei Sammelbänden bei Mouton de Gruyter bzw. John Benjamins veröffentlicht werden.